Pflegemutter Sandra Holl gründet eine Selbsthilfegruppe Wie „nur“ ein Schluck des Kindes Leben ver ändern kann

Grevenbroich · Vor viereinhalb Jahren trafen Sandra Holl und ihr Mann eine Entscheidung, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte: Sie nahmen ein Pflegekind auf, dessen leibliche Mutter in der Schwangerschaft Alkohol zu sich genommen hat.

 Sandra Holl liebt ihren Sohn über alles — auch wenn der Alltag sie immer wieder an den Rand der Belastungsgrenze bringt. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit ist ihre ganze Familie gefordert.

Sandra Holl liebt ihren Sohn über alles — auch wenn der Alltag sie immer wieder an den Rand der Belastungsgrenze bringt. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit ist ihre ganze Familie gefordert.

Foto: Foto: Julia Schäfer

Der kleine Junge hat jeden Tag mit den Folgen zu kämpfen.

Wutanfälle, Aggressionen, Bisse, Schreie, Selbstverletzungen — und das alles oft ohne ersichtlichen Grund. Der Fünfjährige (Name der Redaktion bekannt) ist auf dem geistigen und körperlichen Stand eines Dreijährigen. Er leidet an FASD ("Fetal-Alcohol-Spectrum Disorder").

Der Grund dafür ist traurig: Seine Mutter hatte sich nicht im Griff und trank Alkohol in der Schwangerschaft. Sogar Drogen waren im Spiel. "Und ich sehe jetzt mein kleines, hilfloses Kind, das nichts für die Taten seiner leiblichen Mutter kann, aber wegen ihr ein unfassbar schweres Leben hat", seufzt Holl. Der Junge ist offiziell ihr Pflegekind — aber gefühlstechnisch ist er viel mehr als das: "Ich merke keinen Unterschied zwischen der Liebe zu ihm und zu meinen leiblichen Kindern. Ich vergesse ganz oft, dass er nicht von mir geboren wurde. Er ist ein wertiger Teil der Familie." "Jeder Tag ist eine Herausforderung. Unser Alltag ist geprägt von ständigen Wiederholungen, jede noch so kleine Abweichung kann zum Ausrasten führen", erzählt Mama Holl weiter. Und so richtet sich alles danach, dem Jungen so viel Sicherheit wie nur möglich zu geben.

Und doch gibt es immer wieder Rückschläge. Wenn neue Situationen plötzlich zur ganz großen Herausforderung werden. Oder wenn er nachts zum Beispiel schreiend wach wird. Oder wenn er sich von Sandra Holl nicht lösen mag … "Dann sehe ich seine Hilflosigkeit und frage mich, was da so tief in ihm sitzt. Der zweimonatige Entzug als Säugling? Dass er wenige Tage alt fallen gelassen wurde? Oder dass er sich angeblich nachts so sehr bewegt hat, dass sein ganzer Körper am nächsten Tag voll mit Hämatomen war? Er musste so viel ertragen und erleben, bevor er in Sicherheit gebracht wurde. Ich hoffe, er weiß, dass ihm so etwas nie wieder passieren kann", erzählt die Mutter bewegt. Die Hilflosigkeit des kleinen Jungen, der im Sommer auf der Mosaikschule in Hemmerden eingeschult wird, äußert sich ganz unterschiedlich: Mal reißt er der Mama Haare aus, schlägt seinen Kopf immer wieder gegen die Wand oder beißt. Dann probiert er Waschmittel — immer und immer wieder, denn bei dem Kind tritt kein Lerneffekt ein. "Ich versuche ihn zu schützen und auch den Rest der Familie, denn natürlich ist es besonders für meine anderen Kinder schwierig zu verstehen, warum der Kleine sich und uns immer wieder verletzt oder grundlos ausrastet. Und das Traurige ist: Er weiß es selbst nicht. Wenn mich nach einem Anfall die kleinen, traurigen Augen anschauen und er fragt: Mama, warum bin ich so? Was ist da die richtige Antwort? Ich zeige ihm nur immer wieder, wie sehr wir ihn lieben und ihn brauchen — so wie er ist, denn er wird bei uns bedingungslos geliebt, so wie er es verdient hat."

Sandra Holl ist eine bemerkenswerte Frau: Um einem Kind eine Chance im Leben zu geben, hat sie ihre Komfortzone verlassen. Hat sich der Herausforderung gestellt und damit vermutlich ein kleines Menschen-Leben gerettet.

Lesen Sie weiter auf Seite 11.

(Kurier-Verlag)
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