„Gottes Barmherzigkeit ist größer, als wir alle uns das jemals vorstellen können“

Jüchen · Ulrich Clancett wurde 1964 in Kempen geboren. Seit 1991 wirkt er in Jüchen. Anfangs nochKaplan, wurde er 1999 zum örtlichen Pfarrer bestellt. Seit 2008 ist er außerdem Regionaldekan. Ende September konnte er in der Pfarrkirche "St.

„Gottes Barmherzigkeit ist größer, als wir alle uns das jemals vorstellen können“
Foto: Gerhard Müller

Jakobus der Ältere" sein
silbernes Priester-Jubiläum feiern. Aus diesem Anlass interviewte der Erft-Kurier diesen
ebenso streitbaren wie liebenswerten Kirchenmann.

Wie hat sich Kirche in den 25 Jahren, in denen Sie Priester sind, verändert?
Sie ist kleiner geworden, was sich aber eigentlich nur in Zahlen ausdrückt. Wenn man die Intensität von Kirche messen könnte, würde ich sagen: Sie ist da, wo sie präsent ist, sehr intensiv. Aber die Lücken werden immer größer — was uns dazu zwingt, genauer hinzusehen
auf das, was noch leistbar ist. Ein tolles Beispiel für eine solche aus christlicher Grundüberzeugung getragene Initiative ist das "Café Welcome" für Flüchtlingsfamilien in der ganzen Gemeinde Jüchen. Da wird der Glaube ganz praktisch — da wird nicht nach Konfessionen oder Religionen unterschieden, da wird durch die konkrete Arbeit ein großartiges Zeugnis gegeben, nach dem Motto: Seht her, aus unserer christlichen Grundüberzeugung heraus machen wir das — und schlagen es euch vor. Probiert es doch mal aus!

Zeitgeist vs. Grundfesten des Glaubens: Wie modern darf Kirche sein? Wo muss sie
unmodern sein?

Die Gemeinschaft der Christen — und das ist die Kirche! — ist zeitlos. Natürlich gehen
Zeitströmungen auch an uns nicht spurlos vorüber. Doch die Botschaft Jesu bleibt seit über 2000 Jahren gleich: Eine Botschaft der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe. Kirche
scheitert immer da, wo sie sich diese Botschaft aus der Hand nehmen lässt und sie sich zu sehr unter einem vermeintlich modernen Zeitgeist verbiegen lässt ...

Viele sagen, sie würden glauben, hätten aber mit dem "Boden-Personal" ihre Schwierigkeiten. Was sagen Sie denen?

Da treffen eben Menschen auf Menschen. Und das geht nicht immer gut — so ist das eben. Das sage ich in Gesprächen immer wieder: Projiziert doch bitte euer eigenes Unerreichtes, nicht auf die Menschen, die in dieser Kirche für euch da sein möchten — das sind keine
perfekten Wesen, keine Heiligen. Und selbst die hatten ihre Ecken und Kanten ...

Gelingt mit Papst Franziskus der Schritt in eine gute Zukunft?

Ja, das glaube ich. Er setzt viele, eindrucksvolle Zeichen, hat allerdings auch mit einem riesigen Apparat um sich herum zu kämpfen. Aber hier und da kann man schon kleinere Aufbrüche spüren ... Das gibt immer wieder neu Hoffnung!

"Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, …" Wie groß darf das Nadelöhr für Geschiedene, für Kapitalisten, für Umweltsünder sein?

Naja, diese Aufzählung ist schon, sagen wir mal: ungewöhnlich ... Aber im Ernst: Das ist doch gerade die Botschaft von Franziskus: Barmherzigkeit! Gottes Barmherzigkeit ist größer, als wir alle uns das jemals vorstellen können. Das finde ich, nebenbei, auch für mich selbst, immer wieder als sehr tröstlich. Und Franziskus hat schon mehr als einmal gesagt: Wer bin ich eigentlich, dass ich über diese Menschen zu richten haben soll? Da geht es nicht um billige Persilscheine nach dem Motto: Alles gut, weiter geht‘s... Denn das ist ja der andere Teil der Botschaft: Barmherzigkeit setzt manchmal auch Umkehr voraus. Das eigentlich revolutionäre an unserer christlichen Botschaft ist: Sie ist immer möglich. Es gibt nichts, was mich hindern könnte, auf einem als falsch erkannten Weg umzukehren. Das Geheimnis der Barmherzigkeit ist: Gott nimmt diese Umkehr, egal zu welchem Zeitpunkt, immer an. Auch wenn ich mich manchmal menschlich schwer damit tue: Ja — in diesem Sinne gibt es da kein Nadelöhr — sondern weit geöffnete Tore!

Früher haben wir in Deutschland für die Diaspora gesammelt, sind wir mittlerweile zur Diaspora geworden?

Diaspora heißt: Zerstreuung. Ich glaube, das trifft es nicht ganz. Was ich wahrnehme, ist eine Art "Verdunstung": Gemeinden, die vor einigen Jahren noch sehr aktiv waren, in denen es viele Gottesdienste und Gottesdienstbesucher gab, lösen sich in Wohlgefallen auf. Das hat sicher viele Gründe. Ein Grund liegt etwa in der Wiedervereinigung: Da kommen plötzlich Menschen mit uns in unseren traditionell geprägten katholischen oder evangelischen Millieus zusammen, die "an nichts" glauben. Und sie sagen uns ganz klar: "Ich glaub‘ nix — mir fehlt nix!" Ich weiß noch, wie damals meine erste spontane Reaktion war: An irgendetwas muss doch jeder Mensch glauben, das geht doch gar nicht anders. Aber weit gefehlt: Viele haben uns glaubhaft versichert, dass das geht. Und sie machten mir jetzt nicht den unglücklichsten Eindruck dabei. Darauf haben wir erst ganz zaghaft und zögerlich geantwortet — wenn überhaupt. Viele bei uns sind auf diesen Zug aufgesprungen nach dem Motto: Was fehlt mir, wenn ich aus der Kirche austrete? Außer der gesparten Kirchensteuer nichts, oder nicht viel. Und machen wir uns nichts vor: Die Wellen der Kirchenaustritte der vergangenen Jahrzehnte haben eigentlich nur das nachvollzogen, was in der Zeit lange davor schon nicht mehr da war: Eine wirkliche Bindung an die Kirchen und die Gemeinden vor Ort — gleich welcher Konfession. (…) Innerlich hatten sich schon viele aus den Kirchen verabschiedet. Gleichzeitig beobachte ich aber auch, dass es viele kleine Gruppierungen, vielfach auch junger Menschen gibt, die sich zusammenfinden, um gemeinsam den Glauben zu leben und zu feiern. Da bilden sich geistliche Zentren, zu denen die Menschen kommen und dort Angebote wahrnehmen. Das Nikolauskloster, die "Oase im Rhein-Kreis", wie sie sich nennen, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür.

Wie steht es mit Kirche und Glauben in Jüchen?

(lacht) Wenn ich das messen könnte ... Hier muss man sich auf sein Gefühl verlassen. Und das sagt mir: Der Glaube spielt bei den allermeisten Menschen immer noch eine große Rolle. Und zwar so,dass auch Menschen, die ohne einen christlichen Hintergrund zu uns kommen,
danach fragen und sich interessieren. Die Zeiten der großen Zahlen und der vollen Kirchen sind bei uns (wie fast überall sonst auch) vorbei. Da gibt es natürlich viele Menschen, die das bedauern. (…) Ich habe das Gefühl, dass sich die Menschen sehr gut aussuchen, welches
Angebot sie wahrnehmen. Einfach so am Sonntagmorgen in die Kirche zu gehen, weil das dazugehört —das ist vorbei. Ich suche mir ein Angebot, das passt. Etwa einen Gottesdienst,
der musikalisch besonders gestaltet ist, oder einer, der besonders auf Familien mit Kindern ausgerichtet ist. Dann muss es aber auch erst einmal wieder gut sein. Menschen binden sich
heute nicht mehr so, wie das früher der Fall war. Das ist übrigens eine Erfahrung, die wir in allen anderen Lebensbereichen ebenfalls machen, nichts also, was speziell mit dem Glauben oder den Kirchen zu tun hätte.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für sich, für Jüchen oder für die
Kirche wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass der Prozess der Einigung weiter vorangeht — in allen Bereichen: Dass das Kirchturmdenken nur noch dazu dient, auf den eigenen Kirchturm zu steigen und sich umzusehen: Was gibt es anderswo, was bei uns im Dorf nicht mehr möglich
ist. Und dann eine Offenheit aller Seiten für diese Vereinigung. In vielen Bereichen haben wir das in der Vergangenheit in Jüchen erleben können: Zusammen geht es einfach besser. Schade wäre es, wenn jeder auf seiner Scholle sitzen bliebe und mit Zähnen und Klauen vermeintlich uralte Traditionen verteidigte, bis schließlich keiner mehr da ist und das Ganze zusammenbricht. Da könnte man andere Signale setzen und die verbliebene Energie besser nutzen.

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