Zeitzeugen berichten „Wir hatten so Hunger und haben nichts bekommen“

Jüchen · "In wenigen Jahren kann keiner mehr nachvollziehen, was damals zu Kriegszeiten geschehen ist", erklärt Bürgermeister Harald Zillikens, "das war vor allem die Motivation für dieses Buch." Mit Dr. Martin Rüther konnte ein Historiker gewonnen werden, der unter dem Titel "Wir sind ja rundherum von Einheimischen eingezingelt" die Geschichte der Flüchtlinge in und um Jüchen nach 1945 mühevoll aufgearbeitet hat.

Zeitzeugen berichten: „Wir hatten so Hunger und haben nichts bekommen“
Foto: Scrrenshot/ Buchcover

Zeitzeugen berichten: „Wir hatten so Hunger und haben nichts bekommen“
Foto: Alina Gries

"Im Gemeindearchiv gibt es so gut wie keine Unterlagen zu dieser Zeit", weiß Zillikens, "Martin Rüther hat sich alles mühsam zusammensuchen müssen." So hat der Historiker und Autor auch einzelne Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, die ihre Erlebnisse aus ihrer Sicht schildern.

Wolfgang Kuhn und Gertrud Zillikens sind zwei derer, die teilhaben lassen an dem, was ihnen in Erinnerung geblieben ist. Neben Flucht und Ankunft in Jüchen, berichten sie auch, wie sie die Nachkriegszeit in Jüchen erlebt haben. Das Buch "Wir sind ja rundherum von Einheimischen eingezingelt" kann übrigens ab sofort auch online unter http://jugend1918—1945.de/juechen/default-.aspx?id=30351 aufgerufen werden. Absoluter Gänsehaut-Effekt haben die Videos der Zeitzeugen. Reinklicken lohnt sich!

Wolfgang Kuhn

Die Tschechen haben die Deutschen unter brutalen Umständen rausgeschmissen", weiß Wolfgang Kuhn aus Erzählungen.
Er wurde 1943 im Sudetenland geboren. Erinnerungen an die Vertreibung hat er nicht viele. Letztlich kamen er, sein jüngerer Bruder (Foto unten) und seine Mutter in Torgau unter, ehe die Familie mit dem Vater 1946 in Pritzier wieder vereint wurde.

"Es war sehr landwirtschaftlich geprägt dort. Wir wohnten als Flüchtlinge in einem Guts-haus", äußert sich Kuhn über seine ersten Erinnerungen. Auch eingeschult wurde er dort. "Mein Vater war mit dem Politiksystem nicht einverstanden. Als ich zum Beispiel einmal von der Schule mit einer Sichel nach Hause gekommen bin, hat er sie auf den Schrank gelegt und nie wieder ein Wort darüber verloren." Kaum ein paar Jahre später verstarb seine Mutter. "Zur Beerdigung ist meine Tante aus Kassel gekommen und hat meinen Bruder mitgenommen. Es war nicht einfach aus dem Osten in den Westen zu gelangen." Weil sein Vater dauernd unterwegs ist, hat sich ein Schuster um den kleinen Wolfgang gekümmert.
"Er war behindert, weil er einen Fuß im Krieg verloren hatte. Aber er hat mich umsorgt, ist mit mir Pilze suchen gegangen und hat mir das 1x1 beigebracht."

Eines Nachts, es waren Sommerferien und der Jüchener in einem Zeltcamp, wurde er von seinem Vater geweckt. "Es war vielleicht 3 Uhr, mein Vater meinte, wir würden nach Kassel fahren. Damit es nicht auffiel, dass wir erst nach Berlin wollten, hat mein Vater Zugfahrkarten zu einer nächst größeren Stadt besorgt." Dort lebten sie dann zur Untermiete. "Damals musste man nachweisen, dass man Arbeit im Westen hat, sonst hätte man keine Zuzugsgenehmigung bekommen", weiß Kuhn. Sechs Woche habe es gedauert ehe der Vater den Bergwerkdirektor, bei dem er in Schatzlar gearbeitet hatte, in Siegen ausfindig machen konnte.

"Dann sind wir mit dem Flugzeug von Berlin nach Hannover und weiter nach Kassel. Und dann, wie auch immer, hat mein Vater eine Hebamme aus Priesterath kennen gelernt. Sie heirateten und wir zogen nach Priesterath." Weil sie dann aber ein eigens Dach über dem Kopf haben wollte, entschieden sie sich schließlich für Jüchen. "Als ich dem Schützenzug beigetreten war, war der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich nicht mehr als Flüchtling gefühlt habe", berichtet Kuhn mit Verweis darauf, dass der Schützenverein eine enge Gemeinschaft sei.

Gertrud Zillikens

"Das Schlimmste war, dass wir nur mit dem, was wir anhatten, fliehen mussten. Wir waren gar nicht vorbereitet", erzählt Gertrud Zillikens die Situation um 1945 als Soldaten sie zur Flucht aufscheuchten, "meine Mutter hatte sogar noch einen Kochkessel aufgesetzt. Dafür, dass wir dann baden können, wenn wir nach Hause kommen." Nur zwei Briefe und ein Bild ihres im Krieg gefallenen Papas konnte sie auf der Flucht mitnehmen.

Die damals Zwölfjährige floh zunächst von Braunsberg über das Haff. "Es war alles vereist und wir mussten darüber", erinnert sich die heute 85-Jährige, "vor uns ist dann ein Wagen eingebrochen mit einer Mutter und ihren Kindern. Die waren innerhalb von Minuten weg, wir konnten sie nur noch schreien hören. Helfen konnte niemand" Eine Erinnerung, die tief verankert ist. Dann erreichen sie, ihre zwei Schwestern und die Mutter, Pillau, wo sie einige Zeit in einer Gartenlaube leben. "Von da aus wurden wir dann irgendwann auf ein Frachtschiff Richtung Dänemark verladen. Wir wurden mehrfach beschossen und bombardiert." Vom Schiff runter, wurden die Flüchtlinge nach einer Nacht in einem Hotel in einem Internierungslager untergebracht. "Wir haben hinter Stacheldraht gelebt, hatten keine Schule und kein Essen. Die Dänen haben uns zu Anfang sehr schlecht versorgt", weiß sie. Eines Tages dann, es war November 1947, wurden sie in einen Güterzug geladen und nach einer langen Fahrt quer durch Deutschland schließlich in Hochneukirch förmlich rausgeworfen. "Hier wurden wir zunächst im Tanzsaal einer Gaststätte untergebracht, ehe wir bei einem Bauernhof in Holz zwangsquartiert wurden."

Für Gertrud Zillikens beginnt hier eine der schlimmsten Zeiten ihres Lebens. "Wir hatten so Hunger und haben nichts zu Essen bekommen", zeigt sich die Hochneukirchenerin sichtlich emotional. Zu viert teilten sie sich ein winziges Zimmerchen. Zwei mussten sogar auf dem Boden schlafen. "Im Garten hatten wir unsere Kittelschürzen zum Trocknen aufgehängt und ich weiß noch, dass die Bäuerin mit mir schimpfte, als ich vier Äpfel unter meinem Kittel versteckt hatte. Die hatte ich aber nicht gepflügt. Sie sagte, die Äpfel wären für die Schweine bestimmt. So etwas tut weh, auch als Kind."

Andere zeigten dabei mehr Gutmütigkeit: "Die Klassenkameraden meiner jüngeren Schwester haben sogar Schulspeisen für uns gesammelt", lächelt sie dankbar, "außer der Bäuerin wurden wir hier in Holz sehr freundlich behandelt." Gertrud Zillikens arbeitet zunächst in einem Kloster, später in einer Spinnerei, um etwas Geld zu verdienen. Mit der Zeit lernte sie ihren Ehemann Josef Zillikens kennen. 65 Jahre sind die beiden jetzt schon verheiratet und haben zwei Kinder sowie zwei Enkelkinder. Und doch lässt die Vergangenheit sie einfach nicht los: "Ich kann das Geschehene nicht vergessen und habe die Bilder jede Nacht, bevor ich einschlafe, vor Augen."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort