Bosse im Interview: Sie verantworten unsere Gymnasien Aufrechtes Denken wichtiger als jeder PISA-Rang
Grevenbroich · Dr. Michael Collel leitet das Erasmus-Gymnasium. Gerhard Bodewein führt das Pascal-Gymnasium. Dabei gibt es aktuell wieder viele Diskussionen um die Schulen in unserem Land, die sich immer neuen und immer schwierigeren Aufgaben stellen müssen. Und auch in unserer Stadt verändert und verschiebt sich die Schullandschaft sich immer wieder.
Wie stellen sich Bodewein und Collel, „Pascal“ und „Erasmus“ den Herausforderungen auf den unterschiedlichsten Ebenen? Unsere Parallel-Interview gibt Vergleichsmöglichkeiten.
In diesen Wochen las man immer wieder von „Schul-Angst“: Schüler, die Angst haben, in die Schule zu gehen. Lehrer, die Panik schieben vor dem, was sie in der Schule erwartet. Was gefährdet heutzutage sorgenfreies Lernen und Lehren? Was können Sie tun, damit Ihr Gymnasium „angstfreier Raum“ wird/bleibt?
Michael Collel: Schule ist kein politischer, gesetzgebender oder medizinischer, sondern ein pädagogischer Raum. Folglich leiten sich Maßnahmen, die wir treffen können, um Schülern und Lehrern das Lernen und Lehren im „angstfreien Raum“ ermöglichen zu können, aus der Pädagogik ab. Das Erziehungsziel von Schule kann es aber nicht sein, die Schulgemeinschaft von Sorgen und Ängsten zu befreien; dieser auch gar nicht erstrebenswerte Zustand ist eine Illusion und lebensfern. Stattdessen muss es darum gehen, Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Dadurch, dass ich gespiegelt bekomme, dass ich wertvoll bin, dass meine Meinung zählt und dass ich mein Umfeld und meine Zukunft aktiv gestalten kann, werde ich krisenfest. In der Forschung ist dieser Zusammenhang mit dem Begriff der Resilienz belegt. Deswegen erziehen wir als Europaschule und Erasmus+-Schule unsere Schüler zu weltoffenen, kritischen und mutigen Menschen, die Bildung als ganzheitlichen Prozess kennenlernen und immer wieder über sich hinauswachsen können. Deswegen pflegen wir zwischen Schulleitung, Lehrern, Schülern und Eltern eine Vertrauenskultur und leben die Anerkennung von Vielfalt sowie den wechselseitigen Respekt.
Das Erasmus-Gymnasium hat eine Schulleitung, die zuhört, ein Kollegium, das die Schüler in besonderer Weise unterstützt und begleitet, eine Elternschaft, die sich aktiv einbringt und eine ganz wunderbare Schülerschaft mit einer sehr starken SV-Arbeit.
Gerhard Bodewein: Lernen und Lehren können aufgrund verschiedener Einflüsse von unterschiedlichen Ebenen aus nicht immer reibungslos und frustfrei verlaufen. Gerade, weil Schule heute mehr denn je Lern- und Lebensraum sowie Begegnungsort ist, ist es wichtig, ein unterstützendes und respektvolles Umfeld sowie eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in denen sich jede und jeder mit ihren beziehungsweise seinen Stärken und Schwächen angenommen und sicher fühlen kann.
Ganz im Sinne unseres Namensgebers Blaise Pascal sowie als Schulentwicklungspreisträger und anerkannte UNESCO-Projektschule bedeutet ein sorgenfreies Lernen für uns am Pascal-Gymnasium, unsere Schülerschaft in den Mittelpunkt zu stellen, soziale und emotionale Gesundheit, Konfliktlösungsstrategien sowie die regelmäßige Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Lernenden, Lehrenden und Eltern zu fördern und zu schätzen.
Wir sehen uns als Pascal-Familie, achten aufeinander, hören zu und kümmern uns umeinander. Auch stärkt unsere Werte- und Sinnorientierung und hilft dabei, dass unsere Schülerinnen und Schüler sich zu eigenständigen und starken Persönlichkeiten entwickeln können.
Unser ganzheitliches Beratungssystem, das neben der personenzentrierten Beratung unter anderem Elemente des Lern-Coachings oder der Studienorientierung beinhaltet, unterstützt die Schülerschaft und steht zudem den Eltern am Pascal-Gymnasium zur Seite genauso wie das ausdifferenzierte professionelle Netzwerk verschiedener Beratungsstellen bis hin zu den bestehenden Kooperationen mit der Jugendhilfe, Familienvereinen und Universitäten.
Nicht nur wegen PISA: Das deutsche Schulsystem bekommt immer wieder schlechte und immer wieder schlechtere Noten. Wenn Sie das Sagen hätten, wo würden Sie bildungspolitisch mit der „Reparatur“ beginnen?
Gerhard Bodewein: Etwas reparieren zu wollen, setzte per definitionem voraus, etwas Defektes in einen funktionsfähigen Zustand zurückzuversetzen. Demnach müsste es um das Schulsystem äußerst schlecht bestellt sein, so als funktioniere gar nichts mehr. So hoffnungslos würde ich die Situation nicht bezeichnen, würde sie am Ende auch bedeuten, vielen vergangenen und gegenwärtigen Generationen von engagierten Lehrerinnen und Lehrern sowie motivierten Schülerinnen und Schülern Unrecht zu tun.
Das „System“ Schule hat sich immer wieder veränderten Bedingungen angepasst und auch anpassen müssen. Jede Zeit hat ihre Herausforderungen, damit Schülerinnen und Schüler und somit die Gesellschaft von morgen die bestmögliche Bildung erhalten. Kein System besteht nur aus sich heraus. Es gibt viele Menschen aus verschiedenen Ebenen, die sich dazu Gedanken machen.
Meine Aufgabe als Schulleitung ist es diesbezüglich dafür Sorge zu tragen, dass neue Konzepte entwickelt und bestehende Strukturen evaluiert werden, um so den Schulbetrieb beziehungsweise unser Lehr- und Lernsystem an die aktuellen und zukünftigen Bedingungen anzupassen. Dies gelingt gemeinsam mit den Lehrkräften, den Lernenden und Eltern im Rahmen offener und transparenter Strukturen.
Michael Collel: Ich maße mir keine bildungspolitischen Renovierungsfantastereien an; dazu habe ich weder die Expertise noch das Mandat. Allerdings sind für mich weder die PISA-Kriterien noch die PISA-Ergebnisse der Messbecher für ein gutes Schulsystem. Eine gute Schule bereitet auf das Leben vor. Sie entlässt lebenstaugliche Schüler mit dem Rüstzeug, glückliche Menschen werden zu können. Schüler sind aus pädagogischer Sicht keine Humanressourcen für den Staat, sondern Selbstzweck als Mensch.
Als Schulleiter eines Gymnasiums hoffe ich überdies, dass wir einen steten Ansporn für ihren geistigen Horizont geweckt haben, nicht stehen zu bleiben auf der Stelle, sondern weiter zu wachsen. Ich hoffe, dass inhumanes Trachten, die Logik der Ab- und Ausgrenzung und die Rhetorik der Angst und des Terrors von ihrem Verstand gestellt und von ihrer Stimme diskreditiert werden und vor allem in ihrem Herzen keinen Platz finden. Als Schulleiter würde ich dies gegen keinen PISA-Rang eintauschen wollen.
Von der großen Politik zurück ins kleine Grevenbroich: Was steht aktuell auf Ihrer „Wunschliste“ an die Stadt als Schulträger?
Michael Collel: Das Erasmus-Gymnasium pflegt einen sehr guten Kontakt zum Schulträger, insbesondere zum „Fachbereich Schulen“. In den vergangenen sieben Jahren wurden viele wichtige Baumaßnahmen (wie die Sanierung der kompletten Außenfassade, der Schüler-Toiletten) durchgeführt. In naher Zukunft erhält das Erasmus-Gymnasium einen naturwissenschaftlichen Neubau bei gleichzeitiger Umwidmung der aktuell bestehenden naturwissenschaftlichen Trakte in Klassenräume.
Dieses Bauvorhaben löst nicht nur die räumlich angespannte Ist-Situation, es ermöglicht auch das Raumkonzept der Schule neu, das heißt zum Wohlbefinden für Lehrer und Schüler beitragend, zu denken. Gleichwohl gibt es eine Wunschliste, auf der sehr prominent der Bedarf einer Schulsozialarbeitsstelle steht. Sowohl der Schulträger als auch die Politik sind seit langem darüber informiert, dass wir hier dringend, wenn auch nur im geringen Stundenumfang, Unterstützung benötigen, damit das überaus engagierte Kollegium mehr Zeit in guten Unterricht investieren kann.
Gerhard Bodewein: Als städtisches Gymnasium ist der Schulträger für die sächliche Ausstattung zuständig. Hier steht vor allem eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit im Vordergrund, die immer schuleigene pädagogische Konzepte trägt und das Wohlergehen aller am Schulleben beteiligten Personen im Blick hat.
Deshalb sind eine entsprechende Ausstattung, Instandhaltung und Weiterentwicklung des Schulgebäudes sowie des Außengeländes das Fundament für eine gute gesunde Ganztagsschule, an der Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte und Mitarbeitende sich wohl fühlen.
Auf meiner „Wunschliste“ steht daher die Bereitstellung kommunaler Ressourcen, um den Lern- und Lebensraum, an dem neben dem Unterricht und den Elementen des Ganztags auch Projekte, Arbeitsgemeinschaften sowie Förderangebote wie zum Beispiel Begabtenförderung mit Freude wahrgenommen werden können, weiter zu gestalten.
Schule ist schon längst nicht nur „Lehranstalt“, sondern ein eigener, kleiner Kosmos … mit Arbeitsgruppen, Aktionstagen, Gemeinschaftsprojekten … die über dem Schulalltag hinausgehen. Was liegt Ihnen da besonders am Herzen?
Gerhard Bodewein: Im Sinne des UNESCO-Gedankens setzt sich das Pascal-Gymnasium gemäß seines Mottos: „Wir alle sind verschieden – Wir alle sind Pascal“ für ein friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft ein und versteht sich als eine Bildungseinrichtung, die – über die selbstverständliche Wissensvermittlung hinaus – durch ihre Partizipationsstrukturen sich bewusst allen am Schulleben Beteiligten gegenüber öffnet und ganzheitliche Beratung sowie naturwissenschaftliche, sprachliche, sportliche und musische Förderkonzepte anbietet und damit Schülerinnen und Schüler während der Schulzeit begleitet und auf das weitere (Berufs-) Leben vorbereitet.
Als UNESCO-Projektschule nimmt die Werteerziehung, die unter den „UNESCO-Säulen: Demokratieerziehung und Menschenrechtsbildung, interkulturelles Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung, „global citizenship education“ und Digitalisierung zusammengefasst werden kann, einen besonderen Stellenwert ein.
Eine weitere grundlegende Bedeutung hat die Auszeichnung und Ausrichtung als „gute gesunde Schule“. Als solche nimmt sie die Lernenden und Lehrenden in den Blick und achtet auf Gesundheit und Resilienz. Die physische und mentale Gesundheit der Schüler- und Lehrerschaft sowie die enge vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern rundet das Selbstverständnis des Pascal-Gymnasiums ab.
Michael Collel: Mein Herz geht gleichermaßen auf am Einschulungstag der aufgeregten und neugierigen Sextaner und bei der Entlassfeier der stolzen und glücklichen Abiturientia. Jedes Jahr werden unter dem Dach des Erasmus-Gymnasiums mehr als 1.000 Biografien fortgeschrieben. So betrachtet ist das Erasmus-Gymnasium mehr als eine Lehranstalt, in dem Unterricht stattfindet. Es ist für alle gemeinsam eine soziale und für jeden Einzelnen eine historische Heimat, die sämtliche „Erasmianer“ vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Tage miteinander verbindet.
Sich als Sextaner in dem großen Gebäude mit den zahlreichen Räumen zurechtfinden, sich allmählich von dem Elternhaus lösen, eigene Entscheidungen innerhalb der Schullaufbahn treffen, auf Fahrt gehen, sich Herausforderungen stellen, vor Auftritten aufgeregt sein, an Erfolgen und Misserfolgen wachsen, den Freundeskreis hochleben lassen, sich verlieben, nach den Sternen greifen wollen, mit ein wenig Wehmut zurückblicken – all dies kann auch Schule sein.
Und das, will ich meinen, ist ein ganz individueller, ein biografischer Wert an sich. Aus dieser Perspektive ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob es nicht zeitgemäß ist, eine Schule VON Schülern zu denken, also nicht nur MIT oder FÜR Schüler. Diesen Ansatz verfolgend, haben die Schüler des Erasmus-Gymnasiums in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise die Hausordnung der Schule überarbeitet sowie das Leitbild der Schule mitentwickelt. Genau diese Form der Beteiligung und Verantwortung von Schüler ist es, die mir besonders am Herzen liegt.
Gerhard P. Müller