Zeitzeuge des Nazi-Terrors: Angst, Flucht, Selbstmord

Grevenbroich · Der Mitte September diesen Jahres 93 Jahre alt gewordene Fred (früher Fritz) Stern lebt heute in den USA an der kalifornischen Westküste. Er ist jüdischer Emigrant aus Grevenbroich und wohl der einzige noch lebende jüdische Zeitzeuge, der den Novemberpogrom des „9.

 Fritz Stern etwa zur Zeit der Novemberpogrome.

Fritz Stern etwa zur Zeit der Novemberpogrome.

Foto: Text und Bild: Ulrich Herlitz.

Novembers 1938“, die so genannte „Reichskristallnacht“, als damals 15-jähriger selber erlebt hat.

Fred Stern besuchte 2009 mit Hilfe der Bundes-Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, dem Förderverein des Erasmus-Gymnasiums und dem „Arbeitskreis Judentum“ im Geschichtsverein um Ulrich Herlitz für eine Woche seine frühere Heimatstadt Grevenbroich. In den weiterführenden Schulen und zahlreichen Institutionen wie Lions-Club oder Geschichtsverein erzählte er über seine Familienbiografie.

1933 wurde Fritz Stern auf dem damaligen Gymnasium eingeschult. Im Laufe der beiden ersten Schuljahre erfuhr er zahlreiche Repressalien und Demütigungen. Sein Klavierlehrer Konrad Wassenberg, bis dahin auch ein enger Freund seiner Mutter, beendete den Privatunterricht aus Furcht vor den Nazis und beendete die Freundschaft zur Familie.

Von Mitschülern und ehemaligen Schülern wurde er geschnitten, mehr und mehr Mitschüler wurden Jungen der „Hitler-Jugend“.

Selbst frühere Freunde wechselten die Straßenseite, wenn sie Fritz trafen. Nur noch wenige wie Gerda Coerds, eine Mitschülerin, bekannte sich noch zu ihm. Oder wie Kitz Steinhäuser, der als Jugendlicher gegen die Nazis aufbegehrte.

Wohltuend auch die wenigen Lehrer wie Dr. Claesges, die Fritz Stern noch grüßten. Anders jedoch die große Masse der Mitschüler wie der Lehrerschaft unter dem neuen nationalsozialistischen Schulleiter Dr. Retzsch, unter dem Fritz Stern bis hin zu unberechtigten Züchtigungen litt.

Einmal versteckte Fritz Stern sich stundenlang auf dem jüdischen Friedhof, um einer Nazi-Marschkolonne und dem obligatorischem Gruß der Hakenkreuzfahne noch zu entgehen.

So setzte er sich gegen den Willen seiner Eltern durch, beendete das letzte Schuljahr auf der Jüdischen Oberschule in Düsseldorf und begann danach – auch in Vorbereitung seiner Emigration – eine Handwerkslehre als Klempner in Düsseldorf bei „Braunschweiger & Cie“.

Fred Stern hat auch seine Erinnerungen an die so genannte „Reichskristallnacht“ niedergeschrieben. So erinnert er sich, wie er sich als junger Lehrling auf den Weg nach Düsseldorf in seinen Betrieb machte.

Er musste erkennen, dass dieser 10. November 1938 kein normaler Tag war. Mehrere Grevenbroicher jüdische Geschäfte waren geplündert, vor der Synagoge lag die Torarolle geschändet auf der Kölner Straße.

Der 15-jährige Junge war bestürzt und verletzt, im Wissen um die Unversehrtheit seiner Familie fuhr er jedoch pflichtbewusst mit der Bahn zur Arbeit.

In Düsseldorf erfuhr er, dass die Übergriffe keine „lokale Aktion“ war – Fritz erlebte, wie Gegenstände von der SA aus dem vierten Stock eines Hauses geworfen wurde.

Am Arbeitsplatz angekommen folgte Fritz dem Rat seines Chefs, wieder zur Familie zurückzufahren. Dort angekommen, fand er nur seine Mutter, Großmutter und seine Großtante weinend vor. Sein Vater, Großvater Lazarus und sein mit im Haushalt lebender Onkel Ludwig waren verhaftet worden.

Aus Angst, dass auch ihm eine Verhaftung drohe, musste Fritz sich für den Rest des Tages und die Nacht im Getreidelager verstecken.

Er wurde zwar nicht verhaftet, seine Angehörigen kamen jedoch in das KZ Dachau und kehrten erst nach Wochen wieder. Als letzter nach vier Wochen sein Onkel Ludwig, völlig verstört und abgemagert. Nicht einmal seiner Mutter konnte er von den Ereignissen erzählen … „Die Kristallnacht war ein Albtraum, in der Juden Leben und Eigentum verloren“, so Fred Stern abschließend.

Fritz Stern konnte mit seinen Eltern Anfang 1939 in die USA emigrieren, ebenso sein Onkel Ludwig nach Palästina. Dort lebte bereits Fritz Bruder Walter, der dorthin 1935 mit der „Jugendalijah“ kam und im Kibbutz Kiryat Anavim lebte.

Anfang Februar 1939 erlebten die Sterns dann nicht nur durch die Vorbeifahrt an der Freiheitsstatue und die „Geburtstagsfeierlichkeiten“ für Abraham Lincoln die Freiheit Amerikas! Als Walter Stern zu seinen Eltern in die USA kam, sein Onkel Ludwig jedoch kein Visum bekam, nahm der sich im Mai 1939 das Leben.

Fritz Sterns Großeltern Lazarus und Julie Goldstein und die Großtante Hedwig Goldstein blieben in Grevenbroich. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht...“, pflegte Großvater Lazarus zu sagen.

So vertrauten die Goldstein darauf, dass trotz Demütigung, Erniedrigung und Entrechtung wenigstens ihr Leben verschont blieb. Doch diese Hoffnung trog. Die Goldsteins wurden als letzte Grevenbroicher Juden im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert und wenige Monate später in Treblinka ermordet.

Damit endete einer der ältesten und über Generationen in Grevenbroich ansässige Familie.

Die Grevenbroicher Theatergruppe „no.name“ hat sich mit Fritz Stern auseinandergesetzt und wird sich im Rahmen der heutigen Gedenkfeier zum 9. November auf dem Synagogenplatz (Beginn 18 Uhr) in szenischen Darstellungen mit Fritz Sterns Erlebnissen, Gefühlen und Erfahrungen insbesondere zu seiner Schulzeit und im Novemberpogrom auseinandersetzen.

Schülerinnen von „KKG gegen das Vergessen“ haben sich ebenfalls mit den Erinnerungen Fritz Sterns beschäftigt und werden Originalzitate von Fritz Stern vorlesen.

(Kurier-Verlag)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort